„Der Mensch trägt eine Sehnsucht in sich, das Leben beeinflussen zu können“ – Die Papierkugel Gottes

Interview mit Dr. Stephan Lermer, Financial Times Deutschland


Es ist nur eine simple Papierkugel, wie sie so oft von Fußball-Fans in Richtung Rasen fliegt. Normalerweise sind die zusammengeknüllten Fetzen keine Erwähnung wert. Doch diese Papierkugel spielte ein bisschen Schicksal.

Die Kugel aus Papier löste besonders im Internet ein wahres Feuerwerk an Reaktionen und lustigen Angeboten auf Ebay aus – und Anhänger von Werder Bremen und dem Hamburger SV werden vielleicht noch in Jahren über sie sprechen.

Im UEFA-Cup-Halbfinale zwischen den beiden Nordrivalen HSV und Werder ließ die etwa faustgroße Kugel den Ball holpern, führte zur Ecke und leitete so das entscheidende Tor für Werder ein. Das Original wird bis 23.00 Uhr am 20. Mai, dem Abend des Endspiels zwischen Werder Bremen und Schachtjor Donezk, für einen guten Zweck versteigert.

Doch wieso provoziert ein einfaches Stück Papier, im Netz inzwischen auch als die «Papierkugel Gottes» bekannt, so viele Trittbrettfahrer? Wieso sorgt sie für so viel Gesprächsstoff?

Der Münchner Diplom-Psychologe Stephan Lermer sagt der Deutschen Presse-Agentur dpa, der Wirbel um die Kugel zeige, dass in den Menschen etwas lodere und sie unerfüllte Wünsche haben. «Der Mensch trägt eine Sehnsucht in sich, das Leben beeinflussen zu können.» Normalerweise könne er aber weder auf sein Leben noch auf ein Fußballspiel Einfluss nehmen. «Wenn jetzt Zufälle ein Schicksal auslösen, klinken sich die Menschen ein. Wenn plötzlich ein Zuschauer aus der Masse ein Tor mit auslösen kann, ist eine Sehnsucht erfüllt – wir können etwas bewegen.»

Zudem seien viele Geschehnisse in der Regel nicht zu erklären, die Papierkugel biete dagegen eine Erklärung, sagt Lermer. Von manchen HSV-Fans erhielt sie so die Rolle des Sündenbocks, einige Werder- Anhänger verehren sie dagegen als Kultobjekt. So stellen die Grün- Weißen auf der Internetseite WikiWorum – in Anlehnung an das Online- Lexikon Wikipedia – die Papierkugel als einen deutschen Fußballspieler vor, der zum Europapokal-Helden aufstieg. Beim Internet-Kurznachrichtendient Twitter hat die «Papierkugel» mehr als 370 Anhänger, beim Netzwerk Facebook gründete sich eine Fan-Gruppe.

Mit witzigen Sprüchen kommentieren Internetnutzer Videos der irren Szene auf der Plattform YouTube: «Das Papier stand doch im Abseits», schreibt ein Fußball-Fan. Und ein anderer scherzt: «Warum hat die Papierkugel eigentlich keine Gelbe Karte bekommen? Ach ne, sie hat ja nur den Ball gespielt.»

Zwölf Tage nach dem Halbfinale laufen beim Internet-Auktionshaus Ebay mehr als 30 Versteigerungen rund um das Corpus Delicti. Darunter sind Nachbildungen, die in den Vereinsfarben grün-weiß oder blau-weiß umhäkelt sind, grüne T-Shirts mit der Aufschrift «Mein Freund ist eine Papierkugel» oder Buttons mit «I love Papierkugeln» sowie «Die Papierkugel war schuld».

«Das ist eine kreative Leistung», erklärt Lermer, der das Münchner Institut für Persönlichkeit und Kommunikation leitet. Wenn einer eine freche Geste wage, gebe es immer Trittbrettfahrer. «Wenn man mit nichts Geld machen kann, macht es immer Spaß. Das ist aber mehr ein Gag, den man abends erzählen kann», sagt der Psychologe.

Die Trittbrettfahrer-Auktionen laufen ohne Erfolg. Mehr als 2400 Euro betrug Höchstgebot für das Original hingegen bereits am 19. Mai, das bei Ebay vom Fernsehsender Sat.1, der Zeitschrift «Sport-Bild» und dem Bundesligisten Werder Bremen zugunsten des Kinderhospizes Löwenherz in Syke bei Bremen versteigert wird. Bei Sat.1 heißt es, für eine simple Papierkugel sei die Summe «Wahnsinn».

Quelle: dpa, 19.05.2009 / © 2009 Financial Times Deutschland, © Illustration: dpa